Im Zentrum der Tagung stand die Frage, inwiefern, wie und mit welchem Erfolg Bedarfs- und Interessenlagen von armutsbetroffenen Menschen in sozialpolitische Reformprozesse eingebracht werden (können). Ebenfalls wurde analysiert, welche Rolle unter anderem Akteur:innen der Sozialen Arbeit bei der Vertretung dieser „schwachen Interessen“ spielen. Dazu wurden erste Erkenntnisse aus dem Verbundprojekt DemSoz präsentiert und mit nationalen und internationalen Expert:innen diskutiert.
Eröffnet wurde die Veranstaltung von Idit Weiß-Gal und John Gal, die im Rahmen ihres Vortrages ihr gerade erschienenes Buch „When Social Workers Impact Policy and Don’t Just Implement It: A Framework for Understanding Policy Engagement“ präsentierten. Soziale Arbeit bewegt sich in einem politisch gestalteten Umfeld. Ihre Aufgabe ist es, sozialpolitische Vorgaben in Form von Gesetzen und Programmen für die individuelle Hilfe anzupassen und anzuwenden. John Gal und Idit Weiß-Gal präsentierten ihren theoretischen Rahmen, um zu verstehen, warum sich Sozialarbeiter:innen in der Politik engagieren, welche unterschiedlichen Wege sie in ihrem politischen Engagement beschreiten können und welche Auswirkungen dies auf Forschung, Ausbildung und Praxis hat.
Florian Blank vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung analysierte in seinem Vortrag „Turning back the clock? Current trends and decisions in German activation and minimum income policies” aktuelle sozialpolitische Reformen und fragte danach, ob die Neuerungen, wie z.B. die des Bürgergeldes einen „Paradigmenwechsel“ in der Sozialpolitik markieren. Während die Sozialversicherungssysteme nach wie vor die größten und bedeutendsten Systeme des deutschen Wohlfahrtsstaates sind, hat die Grundsicherungspolitik an Bedeutung gewonnen. Die aktuellen Reformen beinhalten Verbesserungen, die auch als Reaktion auf Wahlverluste und inhaltliche Kritik zu sehen sind. Für einen echten Paradigmenwechsel, wie von der Bundesregierung angekündigt, wären aber weitreichendere Schritte notwendig gewesen.
Das Panel I „Narrative (Policy-)Strategien der Wohlfahrtsverbände in der COVID-19-Pandemie“ widmete sich der entscheidenden Rolle politischer Erzählungen im Kontext von Reformprozessen in Krisenzeiten. In ihrem Vortrag schilderte Prof. Dr. Sonja Blum (Uni Bielefeld) konzeptionelle Aspekte der Narrativanalyse in der Tradition des Narrative Policy Framework (NPF). Daran anschließend präsentierte DemSoz-Projektmitarbeiter Christopher Smith Ochoa (Uni DuE) die drei zentralen Erzählstrategien der deutschen Wohlfahrtsverbände als Vertretung armutsbetroffener Menschen in der Pandemie. In seinem Kommentar erinnerte Projektbeiratsmitglied Prof. Dr. Riccardo Guidi (Uni Pisa) an die besondere Relevanz institutioneller Merkmale in der Durchsetzung politischer Ziele zivilgesellschaftlicher Organisationen.
In dem Panel II „Schwache Interessen: Selbstvertretung von Menschen mit Armutserfahrung und die politische Einmischung von Sozialarbeitenden auf street-level“, sprach Michael David (Diakonie Deutschland) in seinem Vortrag über die Unterschiede zwischen Teilhabe und Beteiligung von armutsbetroffenen Menschen. Er forderte eine emanzipatorische Armutsbekämpfung, die den Fokus auf die Beteiligung von Betroffenen legt, denn fehlende Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten seien ein Kernmerkmal von Armut in Deutschland. Laura Schultz schloss mit ihren Erkenntnissen zum politischen Handeln von Sozialarbeiter:innen auf „Street-Level“ an. Ausgangspunkt ihres Teilprojekts ist die Fragestellung, inwiefern Sozialarbeiter:innen in der Sozialberatung politisch agieren (können). Neben verschiedenen Strategien, die Sozialarbeitende wählen, um im Sinne ihrer Adressat:inen politisch tätig zu werden, stellte Laura Schultz auch Faktoren vor, die das politische Engagement von Sozialarbeitenden fördern oder hemmen. Rahmenbedingungen, wie fehlende Ressourcen (Zeit, Geld) aber auch starre Hierarchien in der Organisation stellte sie unter anderem als hemmende Faktoren für politisches Handeln dar.
Das Panel III „Welfare Associations in the Political Process“ befasste sich mit den Wohlfahrtsverbänden als Vertreter schwacher Interessen. Ragnar Hoenig legte in seinem Vortrag dar, dass es an einer rechtlichen Grundlage für die Beteiligung der Wohlfahrtsverbände am Gesetzgebungsprozess fehlt. Wie diese versuchen, die Interessen der Servicenutzenden auf die politische Agenda zu bringen, zeigte Corinna Schein anhand des Bildungs- und Teilhabepakets. In seinem Kommentar hob Christoph Strünck unter anderem die unterschiedlichen Funktionen und Interessenlagen der Wohlfahrtsverbände als professionelle Organisationen, Anbieter sozialer Dienstleistungen und Interessensvertretungen der Servicenutzenden hervor.
In einem ersten kurzen Impuls präsentierte Laura Einhorn, im Panel IV Ergebnisse aus einer Fallstudie, aus der die Konflikthaftigkeit kommunaler Politikgestaltung, besonders auch die zwischen Vertreter:innen der lokalen Wohlfahrtsverbände und individuellen Fachkräften aus der Sozialen Arbeit deutlich wurde. Durch ihre enge Einbindung in politische Entscheidungsprozesse verfügen die Verbände über institutionalisierte Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische Prozesse (wenn auch zunehmend mit Einschränkungen ihrer Handlungsspielräume konfrontiert), sodass alternative Deutungen und Positionen nur mit erheblichen Bemühungen sichtbar bleiben konnten. In einem zweiten Impuls teilte Werner Lindner Erfahrungen und Erkenntnisse aus Praxisentwicklungsprojekten mit Fachkräften der kommunalen Kinder- und Jugendarbeit zum „Werkzeugkasten“ an Möglichkeiten kommunaler Politikgestaltung. Er ging hier besonders auf die Instrumente der Politikfeld-, Akteurs- und Netzwerkanalyse ein.
Beide Impulse schnitten neben Handlungsspielräumen von Fachkräften in realpolitischen Gestaltungsprozessen auch kurz Grenzen und Hürden an, die sich u.a. aus der Arbeitsbelastung von Praktiker:innen sowie aus diversen Abhängigkeiten in der Praxis ergeben und die auch in der sich anschließenden Diskussion mit dem Publikum noch einmal aufgegriffen wurden. Antonio Brettschneider griff in seinem Kommentar die Frage auf, inwiefern sich der idealtypische Politikzyklus sinnvoll auf die kommunale Ebene übertragen lasse. Er wies außerdem neben der Frage nach Machtressourcen auf die Rolle von politischen Gelegenheitsstrukturen hin. Von den Zuhörer:innen wurden im Anschluss daran unter anderem Fragen nach potenziellen Bündnispartner:innen für die Soziale Arbeit gestellt. Kritisch wurde angemerkt, dass auch die Einflussnahme auf bestehende politische Verfahren durch Sozialarbeiter:innen diese Verfahren wiederum affirmativ reproduziert, obwohl ganz grundlegend die demokratische Legitimität von (zum Teil informell verhandelten) Politikgestaltungsprozessen in Frage gestellt werden sollte.
In der abschließenden Podiumsdiskussion „Sozialarbeiter:innen in der Politik-Podiumsdiskussion mit Politiker:innen der Kommunal und Landespolitik“, die von Eva Maria Löffler moderiert wurde, stand die Motivation und der Werdegang von Sozialarbeiter:innen, die hauptberuflich oder ehrenamtlich ein politisches Amt ausüben, im Fokus. Leitfragen der Diskussion waren unter anderem: Wie gelingt Sozialarbeiter:innen mit politischem Mandat die Vertretung von schwachen Interessen in politischen Gremien? Was sind Gelingensfaktoren? Was sind Grenzen/Hürden?
Diskutiert haben Christiane Böhm (DIE LINKE; MdL Hessen), Tim Teßmann (CDU; MdL Sachsen-Anhalt), Michael Weisenstein (DIE LINKE; Ratsmitglied Stadt Köln) und Daniela Wieland (DIE LINKE; Sachkundige Bürgerin Hemer). Neben ihren persönlichen Beweggründen in der Politik tätig zu werden, berichteten sie auch über die Herausforderungen in ihrem Amt und die Bedeutung von Netzwerkpartner:innen und Verbündeten, um Interessen in die Politik einbringen und durchsetzen zu können. Trotz oder gerade wegen ihrer eigenen Ausbildung in der Sozialen Arbeit betonten sie, wie wichtig ihnen der regelmäßige Austausch mit Akteur:innen der Sozialen Arbeit über die aktuelle Problemlagen von Adressat:innen ist, um informiert zu sein.